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»Wesensverwandschaft«

Veröffentlicht am 21 Sept. 2023

Dieses Grußwort von Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger, Rektorin des Wissenschaftskollegs, erschien im Magazin, das anlässlich des 40-jährigen Stiftungsjubiläums im September 2023 veröffentlicht wurde.

Wissenschaftskolleg,
© Maurice Weiss

Die Stiftung Preußische Seehandlung und das Wissenschaftskolleg zu Berlin passen gut zusammen. Denn beide Institutionen haben nicht nur eine besondere Beziehung zu Berlin, beide zielen auch – anders, als es der historische Name der Stiftung vermuten lässt – auf die Förderung von Kunst und Wissenschaft, ohne selbst eine bestimmte Forschungsagenda zu verfolgen. Umso schöner ist es, dass diese Wesensverwandtschaft der beiden Institutionen nun zu tatsächlicher Zusammenarbeit geführt hat. 2020 bot mir Hans Gerhard Hannesen einen Sitz im Stiftungsrat der Stiftung an, den ich mit Freude angenommen habe.

Unsere beiden Institutionen sind nicht nur ähnlich klein und ähnlich unabhängig, sondern auch in organisatorischer Hinsicht ähnlich flexibel. Wir genießen ein hohes Maß an Freiheit und Autonomie, um mitunter rasch – rascher vielleicht als viele andere, größere Institutionen – auf unerwartete Herausforderungen reagieren zu können. Deshalb bot sich für das Wissenschaftskolleg die Kooperation mit der Stiftung Preußische Seehandlung an, um kurzfristig drei Ukrainerinnen zu beherbergen, die nach dem Einmarsch der russischen Armee in ihre Heimat im Februar 2022 nach Deutschland gekommen sind. Die Stiftung leistete schnelle Hilfe und stellte uns auf sehr unbürokratische Weise zusätzliche Stipendien zur Verfügung. Die erste Stipendiatin war die Dichterin und Übersetzerin Marianna Kiyanovska, die in diesem Magazin selbst zu Wort kommt. Während ihrer Zeit im Wissenschaftskolleg sind Teile ihres Fotosynteza« entstanden, der – ebenfalls dank der finanziellen Unterstützung durch die Stiftung – soeben erschienen ist; er versammelt ihre jüngsten Gedichte zum Krieg auf Ukrainisch und in polnischer Übersetzung. Ein völlig ungeplantes, besonders glückliches Zusammentreffen war es, dass Marianna Kiyanovska im Wissenschaftskolleg auf die russische Schriftstellerin Maria Stepanova traf, deren Gedichte sie selbst ins Ukrainische übersetzt hatte. Auch sie hat nach dem 24. Februar ihre Heimat verlassen und lebt seither im deutschen Exil. Es ist ein Zeichen der Hoffnung, dass eine ukrainische und eine russische Dichterin sich hier in Berlin im Fellowjahr 2022/2023 Tag für Tag an denselben Tisch gesetzt haben und einander nicht aus dem Weg gegangen sind.

Im kommenden akademischen Jahr wird die Soziologin Tetiana Kostiuchenko aus Kyjiw aus den Mitteln der Stiftung gefördert werden und für fünf Monate ebenfalls am Wissenschaftskolleg zu Gast sein. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Entwicklung postsowjetischer Gesellschaften in vergleichender Perspektive, wobei sie den Fokus auf die Dynamik sozialer Netzwerke innerhalb der politischen Eliten in Osteuropa legt – ein Thema, das für den interdisziplinären Austausch im Wissenschaftskolleg überaus anschlussfähig ist. Für das akademische Jahr 2024/2025 schließlich haben wir die ukrainische Romanistin Dr. Alina Mozolevska eingeladen, Professorin an der Petro Mohyla Black Sea National University, wo sie Romanische Sprachen und Literatur lehrt. Ihr Spezialgebiet ist der literarische Diskurs über Grenzregionen, die Thematisierung und Konstruktion von Grenzen in der Literatur. In dem Projekt, das sie ins Wissenschaftskolleg mitbringt, will sie sich mit dem russischen Krieg in der Ukraine als digitalem Medienereignis befassen.

Angesichts der verheerenden Kriegslage und der mangelnden Verhandlungsbereitschaft des russischen Regimes ist zu befürch-ten, dass der Unterstützungsbedarf für ukrainische Geflüchtete nicht so schnell behoben sein wird, doch ich bin sicher, dass die Stiftung alles daransetzen wird, weiterhin zu helfen, solange Hilfe gebraucht wird.

Zu meinen Aufgaben als Stiftungsratsmitglied gehörte in diesem Jahr auch die Auswahlarbeit für den Jubiläumspreis für Wissenschaft 2023, der zum 40-jährigen Bestehen der Stiftung Preußische Seehandlung verliehen wird. Auch das ist übrigens eine Gemeinsamkeit unserer beider Institutionen – das Wissenschaftskolleg ist vor Kurzem ebenfalls 40 Jahre alt geworden. Der nur einmal vergebene, mit 20.000 Euro dotierte Preis dient der Förderung der Geisteswissenschaften und der Auszeichnung einer Person, die sich in ihrem Fach in besonderem Maße um die Forschung verdient gemacht hat. Die Senatorin für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege Dr. Ina Czyborra überreicht ihn am 23. September 2023 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Das Wissenschaftskolleg kooperiert auch in diesem Fall mit der Stiftung und verbindet den Jubiläumspreis mit der Einladung zu einem Short-term Fellowship im akademischen Jahr 2024/2025. Das bedeutet, dass die Preisträgerin im Grunewald bis zu fünf Monate lang ausschließlich einem selbstgesetzten Forschungsziel nachgehen und zugleich von der anregenden Gesellschaft der rund 40 anderen Fellows profitieren kann.

Wir freuen uns sehr, dass die polnisch-deutsche Kulturhistorikerin PD Dr. Agnieszka Pufelska vom Nordost-Institut der Universität Hamburg mit diesem einmaligen Preis ausgezeichnet wird. Sie trägt mit ihrer Forschung unter anderem wesentlich dazu bei, die traditionelle Aufspaltung der Geschichte Preußens in zwei separate nationale Erzählungen zu überwinden. Das Wissenschaftskolleg schätzt sich glücklich, diese Preisträgerin für das akademische Jahr 2024/2025 als Fellow gewonnen zu haben.

Zugleich sind wir zuversichtlich, dass die Kooperation mit der Stiftung Preußische Seehandlung damit nicht endet. Die gemeinsamen Ziele werden uns auch auf längere Sicht gewiss nicht ausgehen. Es gilt, den Bedrohungen, denen die Autonomie von Kunst und Wissenschaft derzeit aus verschiedenen Richtungen ausgesetzt ist, gemeinsam etwas entgegenzusetzen. In diesem Sinne – alles Gute für die nächsten 40 Jahre!