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Theater

Rückblick: Theaterpreis Berlin an Nele Hertling

Veröffentlicht am 12 Mai 2024

Der Theaterpreis Berlin 2024 wurde am 12. Mai 2024 im Rahmen des 61. Theatertreffens an Nele Hertling im Haus der Berliner Festspiele verliehen. Nele Hertling wurde für ihre Verdienste für das Theater, insbesondere für ihre Leistungen als Dramaturgin, Kuratorin, Intendantin und für die Gründung mehrerer Förderfonds und Netzwerke, geehrt.

Dr. Johannes Odenthal moderierte die Veranstaltung, an der über 600 Gäste teilgenommen haben. Dr. Hans Gerhard Hannesen, Vorsitzender der Stiftung Preußische Seehandlung, und Matthias Pees, Intendant der Berliner Festspiele und Jurymitglied, begrüßten das Publikum zur Verleihung.

Edith Clever las einen Abschnitt aus der "Marquise von O" von Heinrich von Kleist vor. Alexander von Schlippenbach gratulierte Nele Hertling am Klavier mit seiner Improvisation "Impro für Nele". In einer Podiumsdiskussion sprach Dr. Johannes Odenthal mit Hortensia Völckers und Nele Hertling über Hertlings künstlerisches Lebenswerk. Robert Wilson gratulierte Nele Hertling mit einer Videobotschaft.

Joe Chialo, Senator für Kultur und Gesell­schaftlichen Zusammenhalt und Mitglied des Stiftungsrates, überreichte den Preis in Vertretung von Kai Wegner, Regierender Bürgermeister von Berlin und Vorsitzender des Stiftungsrates der Stiftung Preußische Seehandlung. Joe Chialo sprach von Hertlings "große[r], überzeugende[r] Leidenschaft für die Kunst. Es ist eine Leidenschaft, die sich nicht in eigenem künstlerischen Schaffen erfüllt, sondern in einem ständigen Ermöglichen von Kunst für andere von anderen."

Zum Abschluss tanzte Ayesha Lucido, Stipendiatin der Heinz-Bosl-Stiftung beim Bayerischen Junior Ballett München, die "Tänzerin in weiß", eine Figur aus dem Triadischen Ballett von Oskar Schlemmer (1922), rekonstruiert und choreografiert von Gerhard Bohner (1977), eine Auftrags­komposition von Hans-Joachim Hespos und neuinszeniert von Ivan Liška und Colleen Scott (2014).

Der Theaterpreis Berlin ist erstmalig 1988 aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Berliner Theatertreffens vergeben worden. Der mit 20.000 Euro dotierte Preis wird seither jährlich im Rahmen des Theatertreffens in Berlin von der Stiftung Preußische Seehandlung verliehen und dient der Auszeichnung einer Person oder mehrerer Personen, die sich in besonderer Weise durch ihr Lebenswerk oder herausragende Einzelleistungen um das deutschsprachige Theater verdient gemacht haben.

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Fotos: (c) Fabian Schellhorn

BEGRÜNDUNG DER JURY

Seit über 60 Jahren transformiert Nele Hertling Berlin. Durch radikal zeitgenössische Kunst und Künstler*innen, deren selbstbestimmte und eigensinnige Arbeit sie unterstützt, ermöglicht, fördert und begleitet. Für die sie Räume und Möglichkeiten, Kontinuitäten und Wirksamkeit schafft. Und für die sie Kulturinstitutionen, Festivals, Förderfonds, Netzwerke und Partnerschaften erfunden, initiiert, gegründet oder umdefiniert hat. Davon zeugt ihre Arbeit an der Akademie der Künste, für das PMTT, die Werkstatt Berlin Kulturstadt Europas, die Tanzwerkstatt und Tanz im August, das Hebbel-Theater, die Tanzplattform Deutschland, das Koproduzenten-Netzwerk mit dem TaT Frankfurt und dem Kaaitheater Brüssel sowie das Theaternetzwerk Theorem, für das IETM, den Rat für die Künste, den Hauptstadtkulturfonds, den Tanzplan Deutschland, das DAAD-Künstlerprogramm, das Netzwerk und die Konferenz „A Soul for Europe“, das Netzwerk europäischer Akademien und vieles mehr. Ein Tanzhaus für Berlin hat sie auch schon längst erfunden, die Politik hat es bisher nur nicht realisiert.

Immer wieder hat Nele Hertling Berlin geöffnet. Hartnäckig und sanft, mit sachlicher und praktischer Leidenschaft, langem Atem und andauernder Überzeugungskraft, oft auch gegen latenten oder offenen Widerstand. Sie hat die internationale Kunstavantgarde ins Nachkriegsberlin gebracht und zugleich dafür gesorgt, dass die Stadt und mit ihr das ganze Land die künstlerische Moderne in Deutschland vor 1933 wiederentdeckten, deren Traditionslinien in der Nazizeit abgerissen worden waren. Mit Gerhard Bohner rekonstruierte sie das Triadische Ballett, mit Kurt Jooss rehabilitierte sie den Ausdruckstanz. Sie gab der Neuen Musik Raum, der Minimal Art und vielen Formen der Interdisziplinarität. Sie lud revolutionäre Künstler*innen nach Berlin ein und revolutionierte die Berliner Kunstwelt. Aus ihrem Engagement für Pantomime und Puppenspiel etablierte sich ein neuer Begriff von Performancekunst, für die sie die künstlerischen Avantgarden aus New York, Belgien, Frankreich Deutschland und der Welt in Berlin präsentierte und koproduzierte sowie neue Theaterästhetiken aus Osteuropa vorstellte. Jahrzehntelang zeigte und förderte sie insbesondere den zeitgenössischen Tanz, brachte die internationale Tanzwelt mit zahlreichen innovativen Choreograf*innen nach Berlin und vernetzte diese stets nachhaltig mit der Tanzszene vor Ort.

Nele Hertling hat als Dramaturgin, Kuratorin und Intendantin alle diese Berufsbilder auf neue Weise definiert. Sie setzte alternative und grenzüberschreitende Produktionsweisen in den Darstellenden Künsten jenseits der Stadt- und Staatstheater und für die Freie Szene durch und etablierte mit dem Hebbel-Theater, aus dem später das HAU hervorging, eines der bedeutendsten internationalen Produktionshäuser in Europa. Sie prägte in einer Männerwelt als eine der wenigen weiblichen Leitungsfiguren im Kulturbetrieb einen gänzlich uneitlen Führungsstil mit flachen Hierarchien und gemeinsamen Mittagessen im Team. Und sie war auch maßgebend dafür, dass sich das Nachwendeberlin seiner neuen Rolle als internationale Metropole in der Mitte Europas bewusst werden konnte, indem sie früh ein gesamteuropäisches Denken förderte und sich aktiv gegen Geschichtsvergessenheit und Autoritarismus, für Demokratie und Austausch einsetzte.

Aus der Kindheitserfahrung von Antisemitismus, Verfolgung und dem Verlust von Familienangehörigen durch den Holocaust, den zu Studienbeginn erlebten Konflikten zwischen Ost- und Westberlin und schließlich ihrem Auslandsstudium in London hat Nele Hertling einen unerschütterlichen Glauben an die Notwendigkeit und die transformatorische Kraft der Kunst entwickelt und Berlin zum Mittelpunkt ihres außerordentlichen und einzigartigen Wirkens werden lassen.

Mit größtem Respekt und aus tiefer Dankbarkeit für dieses Lebenswerk spricht ihr die Jury den Theaterpreis Berlin 2024 zu.

Die Jury: Theresa Luise Gindlstrasser, Matthias Pees, Prof. Dr. Matthias Warstat, Nora Hertlein-Hull (beratend), Carolin Hochleichter (beratend)

Berlin, im Februar 2024