Rückblick: Theaterpreis Berlin an Herbert Fritsch
Für seine außerordentlichen Verdienste um das deutschsprachige Theater zeichnete die Stiftung Preußische Seehandlung Herbert Fritsch mit dem Theaterpreis Berlin 2017 aus. Die Entscheidung über die Auszeichnung traf die Preisjury, der die Intendantin des Schauspielhauses Zürich, Barbara Frey, der Intendant des Düsseldorfer Schauspielhauses, Wilfried Schulz und die Theaterkritikerin Eva Behrendt, sowie mit beratender Stimme der Intendant der Berliner Festspiele, Dr. Thomas Oberender, angehörten.
Der mit 20.000 Euro dotierte Theaterpreis Berlin wurde am 7. Mai 2017 im Rahmen des 54. Theatertreffens im Haus der Berliner Festspiele vom Regierenden Bürgermeister und Vorsitzenden des Rates der Stiftung Preußische Seehandlung, Michael Müller, verliehen. Die Laudatio hielt Frank Castorf.
BEGRÜNDUNG DER JURY
«Bei mir dürfen die Schauspieler all das machen, was ihnen schon auf der Schauspielschule verboten wurde», hat Herbert Fritsch einmal behauptet. Der widerspenstige Otto-Falckenberg-Schüler und Castorf-Protagonist muss es wissen. Nach einer Bühnenkarriere von Heidelberg an die Berliner Volksbühne der 90er und Nuller Jahre befreit Fritsch in seiner zweiten Lebensrolle als Regisseur seit nunmehr zehn Jahren seine Schauspieler*innen zum hemmungslosen Grimassieren und kunstvollen Chargieren, zu exaltierten Tönen und haarsträubender Slapstickakrobatik.
Der erfahrene Schauspieler Herbert Fritsch hat als Regisseur noch einmal ganz von vorne angefangen und den Weg über die Bühnen von Halle, Schwerin und Oberhausen genommen, bevor er in Hamburg, Zürich und Berlin inszenierte. Im Zentrum seiner Regiekunst stehen der von ihm selbst gestaltete Raum und die Körper – in ihrer komischen bis grotesken Überzeichnung, in ihrem Verhältnis zum Bühnenbild, aber auch in ihren physischen Besonderheiten und Formalisierungen durch die Kostüme und Masken von Victoria Behr. Was Fritsch und seine tollen Truppen aus diesen Körpern herausholen, hat weit mehr mit Choreografie, Physik und deren Überwindung zu tun als mit Narration und Psychologie. Damit stellt sich der Regisseur in die Tradition der den Unsinn feiernden Avantgardekünstler, die er auch als Autoren für die Bühne wiederentdeckt hat, vom früh von ihm verehrten Daniil Charms über den konkreten Poeten Dieter Roth bis zum Wiener Dadaisten Konrad Bayer, deren Witz sich aus der konkreten Materialität der Sprache speist. Ein Spielball, den Fritsch überdies mit seinem Bühnenkomponisten Ingo Günther aufgreift und in Musik verwandelt.
Gleichzeitig hegt der katholisch erzogene Fritsch eine kaum verhohlene Liebe zur Komödie, ja zum Schwank des frühen 20. Jahrhunderts, dessen sexuell verklemmte Untertöne er geradezu genüsslich unter den Teppichen hervorkehrt, um sie mindestens an die große Glocke zu hängen. Auch in kanonischer Dramenliteratur, etwa von Ibsen, Hauptmann, Molière oder Dürrenmatt, buchstabieren Fritschs Spieler*innen Verdrängtes und Verklemmtes körperlich neu aus und ringen ihr so emanzipatorische Seiten neu ab: Gerade ihre hohe Virtuosität, das zugleich beherrschte und die Gefährdung suchende Spiel mit der Form, vermitteln dem Publikum ein Gefühl großer Freiheit. Ein Paradoxon und das seltene Glück der Spieler*innen und Bespielten in Fritschs Theater ist es, erfahrbar zu machen, wie nahe Anarchie und Formvollendung, Virtuosität und Entgrenzung, Sinnentzug und Sinnsetzung, Verweigerung und Relevanz, Scheitern und Hoffnung beieinander liegen, ja, dass sie ohne einander nicht zu haben sind.
Die Jury: Barbara Frey, Eva Behrendt, Wilfried Schulz mit Dr. Thomas Oberender