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Theater

Rückblick: Theaterpreis Berlin an Heiner Müller

Veröffentlicht am 5 Mai 1996

Auf Beschluss der Preisjury wurde der Dramatiker Heiner Müller posthum mit dem Theaterpreis Berlin 1996 ausgezeichnet. Mitglieder der Preisjury waren Frank Baumbauer (Deutsches Schauspielhaus Hamburg), Michael Schindhelm (Bühnen der Stadt Gera und Theater Basel), die Wiener Literaturkritikerin Sigrid Löffler und Ulrich Eckhardt (Berliner Festspiele).

In Michael Schindhelms Laudatio auf den Preisträger heißt es:

„(…) Zuerst saß er zwischen allen Stühlen, zuletzt stand er zwischen den Thronen. Er schrieb nicht nur in einer anderen Zeit als er lebte, er schrieb für eine andere Zeit, als für diejenige, die wir - ob nun froh, fahrlässig, aus Opportunismus oder mit Zähneknirschen - die unsere nennen. Der Schnee von gestern kehrt zurück, die Restwärme der ausgeglühten Idee verhaucht im klirrenden Blätterwald. Die Mauern stehen sprachlos und kalt, die Schatten der Erde werden länger. Das Land, das der tote Mann lange und grimmig verteidigte, das ihn früh im Stich ließ, erwies sich nur als eine Schwimmblase an dem Fisch, in dessen Bauch sich die Endlagerstätte des Kapitals befinden. Die Schwimmblase ist hin, und siehe, der Fisch taucht tiefer ins Trübe.

Kann keine Trauer sein, nur schnittartige Vergegenwärtigung. Seiner schwarz umrandeten Komik, seiner orphischen Poesie, seiner minotaurischen Emigration ins Zeitlabyrinth, seines fliehenden Witzes über kalter Asche. Denn der Tod ist nichts. Was zählt, ist das Beispiel, ist die Gebärde freien Flugs, der im Gegenwind aufsteigt. Neuen Mühen entgegen, nicht der Ebene, sondern der anbrandenden Wüste.

Wir nehmen Abschied, auch mit dieser Preisverleihung, wir halten Abstand, wir vermehren das Schweigen über einen fremden Dichter, dessen Werk noch lange nicht am Ziel ist, wenn er stirbt.“