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Literatur

Rückblick: Berliner Literaturpreis an Olga Martynova

Veröffentlicht am 18 Feb. 2015

Am 18. Februar 2015 wurde die Schriftstellerin Olga Martynova mit dem Berliner Literaturpreis ausgezeichnet. Der Präsident der Freien Universität nahm die Berufung auf die Heiner-Müller-Gastprofessur vor. Die Laudatio auf die Preisträgerin hielt Elke Erb.

Berliner Literaturpreis 2015 © gezett

BEGRÜNDUNG DER JURY

„Die Spirale der Geschichte ruiniert die Zentren, indem sie sich durch die Randzonen mahlt.“ (Heiner Müller)

Olga Martynova erhält den Berliner Literaturpreis 2015. Olga Martynova (geboren 1962 bei Krasnojarsk, aufgewachsen in Leningrad, seit 1991 in Deutschland lebend) schreibt aus diesem Mahlstrom von Geschichte heraus, den die nach-sozialistische Ära ausmacht. Mit überbordender Phantasie und traumwandlerischer Leichtigkeit gelingt es ihr in ihren Romanen Sogar Papageien überleben uns (2010) und Mörikes Schlüsselbein (2013), gängige Themen wie Herkunft, Liebe oder Familie in ein trans-historisches Universum zwischen St. Petersburg, Berlin, Frankfurt, Chicago und Sibirien zu übersetzen, in das sich die Protagonisten fügen und finden und das dem Leser den eindimensionalen Plot verweigert. Wir begegnen Schneemenschen und Schamanen, Untergrunddichtern und Kagus, Philemon und Baucis. Sie alle erwehren sich poetisch der Funktionsschemata und Gegebenheiten des Kalten Kriegs, um wie nebenbei beispielsweise in einer Spionage-Science-Fiction zu landen.

Besonders in ihrer Lyrik Brief an die Zypressen (2001), In der Zugluft Europas (2009) und Von Tschwirik bis Tschwirka (2012) offenbart sich Martynovas verschroben anarchischer Witz und ihr erfrischend respektvoll-respektloser Umgang mit literarischen Traditionen, weil wendig mit Welt-Geschichte als wechselnder Gesellschafts- bzw. mythologischer Formiertheit hantiert wird und geschichtete Vermächtnisse anders begründet werden – u.a. um den unter Stalin umgekommenen Avantgardekünstlern Daniil Charms oder Alexander Wwedenski gerecht zu werden. Martynovas Handhabung von Sprache ist höchstsensibel und genau, gerade weil sie ihre Suchbewegungen in der Nicht-Muttersprache – deutsch – bekennt und  Instrument von Spracherkundung werden lässt. Aus dieser poetischen Weltanschauung und -aneignung blitzt die vergangene als nicht vergehende Zeit auf, deren rätselhaft magische Vexierbilder den Leser dauerhaft in den Bann ziehen und bleiben, indem auch sie sich verändern.

Die Jury: Prof. Dr. Peter-André Alt, Sonja Anders, Dr. Jens Bisky, Dr. Kristin Schulz, Dr. Thomas Wohlfahrt 

Berlin, im September 2014