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Interview: »Neue Fragen an die Vergangenheit«

Veröffentlicht am 21 Sept. 2023

Dieses Interview von Prof. Dr. Daniel Schönpflug (Historiker und Wissenschaftlicher Koordinator am Wissenschaftskolleg zu Berlin) mit Dr. Hans Gerhard Hannesen, ehem. Präsidialsekretär der Akademie der Künste und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Preußische Seehandlung seit 2019, zur Geschichte der Stiftung erschien im Magazin, das anlässlich des 40-jährigen Stiftungsjubiläums im September 2023 veröffentlicht wurde.

Prof. Dr. Daniel Schönpflug: Vor 40 Jahren wurde die Stiftung Preußische Seehandlung gegründet und Sie wollen im Rahmen der Jubiläumsveranstaltung den Blick in die Tiefe ihrer Geschichte richten. Die beginnt 1772 mit der Gründung der Seehandlungs-Societät. Warum halten Sie als Vorstandsvorsitzender den Blick zurück für so wichtig?

Dr. Hans Gerhard Hannesen: Also zuerst ganz banal: Die Stiftung trägt den Namen Preußische Seehandlung, obgleich sie keine juristische Nachfolgerin der historischen Societät ist. Aber sie wurde mit einem Teil des Liquidationskapitals dieser Institution gegründet. Da möchte man doch wissen, was das für eine Einrichtung war, wie sie gearbeitet hat und welche Rolle sie in der langen Zeit ihrer Existenz gespielt hat.

Schönpflug: Erstaunlich vieles aus der Geschichte der Seehandlung ist noch nicht bekannt. In Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Monika Wienfort von der Universität Potsdam machen Sie sich die Erforschung von deren Geschichte zur Aufgabe. Was sind denn aus Ihrer Sicht die Themen und Schwerpunkte, die besondere Aufmerksamkeit verdienen?

Hannesen: Bei Fragestellungen an die Geschichte gehen wir immer von unserer eigenen Zeit aus und natürlich gibt der jeweilige Zeitgeist auch immer Fragen vor. Ein wichtiges Thema ist z. B., uns bewusst zu werden, in welchem Maß unser heutiges Wirtschaftssystem auf einer Vorgeschichte aufbaut. Da lässt sich zum Beispiel sehr gut der Bezug zur frühen Geschichte der Seehandlung herstellen, als aus einem Staatsmonopol, also der Königlichen Seehandlung, allmählich ein bedeutendes Instrument der Wirtschaftsförderung mit Eigenbetrieben wurde, das allerdings auch als Konkurrenz des erstarkenden privaten Unternehmertums empfunden und schließlich zur Preußischen Staatsbank wurde. Und natürlich haben wir von Seiten einer kulturfördernden Stiftung ein besonderes Interesse daran zu erfahren, wo die Seehandlungs-Societät einen Beitrag zur Förderung von Wissenschaft und Kultur geleistet hat. Unser Friedlieb Ferdinand Runge-Preis für unkonventionelle Kunstvermittlung bezieht sich unmittelbar auf ein Chemie-Unternehmen der Seehandlung und einen dort in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tätigen bedeutenden Chemiker. Aber interessiert sind wir natürlich auch an der weiteren Geschichte bis zur Auflösung durch den alliierten Kontrollrats-Beschluss 1947, denn das Stiftungskapital stammt aus der jüngeren Zeit, als die Seehandlung längst zur Preußischen Staatsbank geworden war.

Ein weiteres Thema ist, dass zur Geschichte dieser Institution und damit zur Geschichte Preußens, die Territorien des heutigen Polens gehören, denn große Teile Preußens lagen in unserem Nachbarland. Schon die Gründung 1772 ist eng mit Polen verbunden, denn nur durch die erste polnische Teilung hatte die Institution Zugriff auf Wachs von der Weichsel, das wichtigste Handelsgut, um im Tausch Salz aus Portugal und Frankreich zu importieren. Über eine Handelsniederlassung in Cádiz konnte man wiederum schlesisches Leinen in die lateinamerikanischen Kolonien exportieren. Während in der frühen Zeit der Seehandlung Preußens dynastische Interessen nationale Bestrebungen dominierten – damals war man auf Seiten der Krone noch stolz auf die verschiedenen Sprachen, die in den preußischen Territorien gesprochen wurden – war mit der späteren Dominanz des Nationalen auch eine Germanisierungspolitik verbunden, z. B. bei der Entschuldung der Landwirtschaft in der Neumark.

Und schließlich gilt unser Interesse den letzten Jahrzehnten, als die »Preußische Staatsbank (Seehandlung)«, wie die Institution nach dem Ersten Weltkrieg hieß, auch ein Instrument der nationalsozialistischen Politik wurde. Unter welchen Zwängen haben die damals Verantwortlichen gearbeitet? Auch diese Frage ist für uns, die wir in Demokratie und Freiheit leben, hoch aktuell, denn wir erleben ein Erstarken von Diktaturen in der Welt, mit denen unser Land umgehen muss, und werden dadurch in unseren moralischen Gewissheiten verunsichert.

Schönpflug: Das sind alles Themen, die für die preußische Geschichte allgemein sehr relevant sind, und ich würde gern an zwei Stellen nochmal einhaken: Sie haben vom Gründungskontext der Societät gesprochen, also von der ersten polnischen Teilung und dem Ziel, den Handel mit dem neu gewonnenen Territorium zu vertiefen. Nun wird in der Gegenwart mit Nachdruck über die Notwendigkeit der Aufarbeitung des kolonialen Erbes gesprochen. Stellt sich für Sie diese Frage auch im Zusammenhang mit der Gründung der Seehandlung?

Hannesen: Mit der Sprache der Gegenwart vielleicht ja, mit der Sprache der damaligen Zeit wahrscheinlich nicht. Dynastische Gebietserweiterungen waren ja keine Seltenheit in Europa. Natürlich kann man diese Machtverschiebungen auch als Kolonialismus beschreiben, so wie vieles in der weiter zurückliegenden Geschichte auch, um dann schließlich zu definieren, was den außereuropäischen Kolonialismus und den deutschen im 19. und 20. Jahrhundert ausgemacht hat und welche Formen von Kolonialismus es heute weiterhin gibt.

Schönpflug: Eine weitere Nachfrage hätte ich zum 20. Jahrhundert: Kann man aus dem Gründungsvorgang der Stiftung 1983 ablesen, in welchem Verhältnis man die Stiftung Preußische Seehandlung zur zuvor abgewickelten Bank sah? Es lässt sich ja beobachten, vor allem bei Firmenstiftungen, dass man Geld, das aus problematischen Zusammenhängen stammte, wohltätigen Zwecken zuführte, um es sozusagen reinzuwaschen. Wie lesen Sie die Gründungsintention in Bezug auf die NS-Geschichte?

Hannesen: Ich glaube, diese Frage hat man sich damals nicht gestellt, und das ist auch verständlich. Die Seehandlung war ja bereits schon viele Jahrzehnte de facto untergegangen, also kein weiter existierendes Industrieunternehmen oder eine aktive Bank. Ich glaube, dass die Gründung neben der hauptsächlichen Intention, im damals noch geteilten Berlin eine unabhängige Förderinstitution zu stiften, vor allem im Kontext der großen allgemeinen Preußen-Begeisterung dieser Jahre zu sehen ist. Man wollte wieder mehr über die Vergangenheit wissen, auch vor dem Krieg und der nationalsozialistischen Zeit. Der von den Alliierten mit dem Vorwurf des Militarismus aufgelöste Staat sollte auch mit seinen gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Errungenschaften, mit der Zeit der Aufklärung und der Romantik, in Erinnerung bleiben.

Schönpflug: Neben der großen Preußen-Begeisterung und Wiederentdeckung eines kulturellen Erbes gab es in der Gründungszeit allerdings auch scharfe Preußen-Ablehnung…

Hannesen: Natürlich, klar, das gehört ja immer dazu, das macht die Sache gerade so interessant. Aber alles, was nach dem Untergang Preußens kam, ist ohne das, was vorher war, gar nicht vorstellbar. Auch Berlin als heutige Hauptstadt ist ohne Preußen nicht denkbar, diese märkische Stadt mitten im Sand, ohne Seehafen, ohne Bodenschätze, ohne fruchtbaren Boden, allein durch einen Willensakt entstanden, aber am intensivsten mit der deutschen Geschichte seit der Kaiserzeit identifiziert. Und so hat die Stiftung neben Literatur und Kunst auch den Förderzweck, die Berlin-brandenburgisch-preußische Geschichte aufzuarbeiten. In diesem Sinne ist es vor 40 Jahren vermutlich zu dem Namen Stiftung Preußische Seehandlung gekommen.

Vielleicht findet sich in einem Archiv auch noch ein Hinweis auf die NS-Geschichte als eine Begründung der Stiftungsgründung. In der gleichen Zeit entstanden zahlreiche Bürgerinitiativen zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und Gedenkstätten zur Dokumentation und zur Erinnerung an den Holocaust wurden gegründet. Aus dieser Erinnerungskultur ging letztlich auch die Gründung des Jüdischen Museums in Berlin und des Denkmals für die ermordeten Juden Europas hervor. Die offene und auch immer wieder kontrovers geführte Debatte über die deutsche Vergangenheit war sicherlich ein wesentlicher Grund dafür, dass Berlin nach der Wiedervereinigung international nicht als bedrohliche alte Reichshauptstadt, sondern als eine offene, zukunftsgewandte Hauptstadt akzeptiert wurde. Die Gegenwart hat wiederum neue Fragen an die Vergangenheit, und wenn man sie nicht im Gefühl eigener moralischer Überlegenheit stellt sondern in dem Versuch zu verstehen, was war, kann jede dieser Fragen, natürlich auch die nach dem Kolonialismus, zu neuen Erkenntnissen führen.

Schönpflug: Sie haben jetzt eine Reihe von Motiven genannt, warum Sie das Jubiläum als Moment des Nachdenkes über Geschichte nutzen wollen. Ist das auch der Grund dafür, dass jetzt zum vierzigsten Jahrestag ein Jubiläumspreis für Wissenschaft ausgelobt und an eine Historikerin vergeben wurde?

Hannesen: Also im Nachhinein könnte man das so sehen. Tatsache ist, dass wir es gut fanden, einen Wissenschaftspreis auszuloben, weil das auch schon ein wichtiges Vorhaben bei der Gründung der Stiftung war, das damals an den fehlenden Mitteln scheiterte. Dankbar bin ich, dass wir mit der Rektorin des Wissenschaftskollegs
zu Berlin, Frau Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger, die Mitglied des Stiftungsrats ist, die Kriterien des Preises besprechen konnten. Es sollte kein Preis in Naturwissenschaften, sondern auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften werden und dabei speziell der Geschichtswissenschaften. Dass es dann zu einer polnischstämmigen Preisträgerin kam, die bereits über die Seehandlung geforscht hat, empfinde ich persönlich als ein großes Glück. Ich bin sehr gespannt auf ihren Vortrag, der uns zwingen wird, auch die polnische, vermutlich durchaus kritische Sicht auf die Seehandlung kennen zu lernen. Man hätte vielleicht gerne, daß die Vergangenheit der Institution, für die man sich interessiert oder für die man sich engagiert, immer nur positiv und problemlos war. Aber wie bei jeder Biografie, jeder Familie, jedem Gemeinwesen ist sie das bekanntlich nie. Und das macht die Befassung mit Geschichte sowohl faszinierend als auch manchmal bedrückend, aber immer zu einer erhellenden Erfahrung!

Schönpflug: Zum Schluss noch die Frage, wie es in Zukunft weitergeht. Was haben Sie sich als Vorstandsvorsitzender noch vorgenommen?

Hannesen: Bei der konkreten Arbeit, z. B. bei der Auswahl von Preisträgern, haben wir inzwischen immer wechselnde Jurys, die die Entscheidung treffen. Somit kann die Stiftung eine neutrale Position einnehmen. Bei der Förderung von Projekten und der Vergabe von Stipendien entscheiden wir als Vorstand direkt. Aber mir gefällt, daß wir mit der Förderung aktueller Kunst nicht den Blick auf die Vergangenheit vergessen. Dieses Fördergebiet wird auch in Zukunft wichtig bleiben. Mit Frau Prof. Dr. Monika Wienfort haben wir bereits eine fruchtbare Kooperation. Ich hoffe sehr, daß wir durch das Jubiläum auch noch weitere Verbündete gewinnen, um die Geschichte der Seehandlung allmählich aufzuarbeiten.

Schönpflug: Ich bin jedenfalls sehr gespannt auf die weitere Erforschung dieser für die preußische Geschichte so zentralen Institution. Der Raum für dieses Interview ist leider begrenzt, doch werden wir bei der Jubiläumsveranstaltung das Gespräch fortsetzen können. Der Name Stiftung Preußische Seehandlung, so scheint mir, ist eine gut eingeführte Marke.