»Imagination und Gedächtnis, wie der Geruch von Luft und Erde unter den Füßen«
Im Zusammenhang mit ihrem durch das Ukraine-Unterstützungsprogramm der Stiftung Preußische Seehandlung geförderten Aufenthalt am Wissenschaftskolleg zu Berlin verfasste Marianna Kiyanovska eigens den folgenden Text für das Magazin, das anlässlich des 40-jährigen Stiftungsjubiläums im September 2023 veröffentlicht wurde.
Ich schreibe dieses Etwas – es handelt sich nicht um Notizen oder einen Essay, auch nicht um ein Tagebuch, sondern um ein Etwas – ein wenig verloren und im unverrückbaren Bewusstsein, dass in diesen etwas mehr als neun Monaten mindestens zwei meiner Leben hinter mir liegen. Obwohl ich nicht in den besetzten Gebieten gelebt habe, kein Flüchtling geworden bin, immer noch ein Haus, Katzen, Zimmerpflanzen, alle meine Bücher habe, der Weg im Park, der Spielplatz unter meinen Fenstern und die Nester der Mauersegler auf Armeslänge entfernt noch da sind. Mein Sohn ist nicht in den Krieg gezogen, weil ich keinen Sohn habe. Aber trotzdem – oder vielleicht gerade, weil sich die sichtbare Hülle meines Lebens nicht veränderte – ist die Grenzerfahrung jedes Raketenangriffs so deutlich spürbar. Und ja, in diesen etwas mehr als neun Monaten befand ich mich zweimal fast mit einem Fuß im Grab. Ja, ich war stets ein wenig stolz auf meine Härte gewesen, mir schien, ich könne alles und auch alles aushalten, aber ich konnte nicht so sein, wie ich es meinte und wo ich es wollte, ich habe Gewissensbisse und werde nicht damit fertig, dass ich gezwungen bin, zu nehmen, anstatt zu geben, zu teilen, mich zu opfern – was ich viel lieber machen würde. Ich wusste es vorher nicht, ich konnte es nicht wissen, welch Fluch, welch Unglück es ist, zu Kriegszeiten krank zu sein. In solchen Zeiten ist es schon schwer zu leben, aber wenn man lebt und dabei schwer krank ist… Die Selbstachtung ist in solchen Zeiten unmittelbar an die wörtlich zu nehmende Formel der Nützlichkeit gebunden: ob man etwas für das Land und die Menschen macht oder nicht. Da ich im Ausland medizinisch versorgt werde, befinde ich mich außerhalb der direkten Erfahrung dieses Krieges (zumindest denkt mein Herz so), »außerhalb« im Vergleich zu denen, die »drinnen« sind. Und mein Gewissen kümmert sich nicht um die kalte Vernunft, mein Gewissen erlaubt mir keine Tröstung. Es ruft: »Du bist draußen!«, und ich habe keine Argumente, denn »draußen« zu stehen, wird begleitet von einem akuten Schuldgefühl, das bereits dann einsetzt, wenn man sich ein etwas besseres Essen gönnt, oder ein schönes, auffälliges Kleid, oder eine raffinierte Frisur, oder einen guten Lippenstift.
Überhaupt hat sich der Begriff »draußen« oder »außerhalb« in den letzten anderthalb Jahren stark verändert und bedeutet heute etwas ganz anderes als früher. Heute bedeutet »draußen« zum Beispiel, irgendwo in Polen oder Litauen zu sein, auch in den Niederlanden oder in Großbritannien. »Außerhalb« bedeutet auch die relative Sicherheit der halbwegs am Rand gelegenen Städte der Westukraine. Oder einfach »außerhalb« eines Luftschutzkellers unter freiem Himmel. Es gibt auch ein etwas anderes »Außerhalbsein«: So kann man sogar in einem Luftschutzbunker »außerhalb« sein, wenn man in eine Arbeit vertieft ist, so wie in Friedenszeiten, in etwas Lebensbejahendes, Kreatives, im Schaffensprozess an sich, in der Gestaltung des Daseins, in die Betrachtung von Schönheit versunken ist. Dieser Sinn für das »Außerhalbsein« stellt sich auch dann ein, wenn man in elementare Alltäglichkeiten eintaucht. All diese tausend verschiedenen und doch irgendwie ähnlichen Dinge wurden von uns nach »außen« verdrängt. Diese für eine normale Existenz so notwendigen Dinge werden freilich durch den Krieg explizit hervorgehoben. Denn der Krieg ist in jedem von uns, wer immer wir sind, wo immer wir uns befinden.
Und den zehnten Monat in Folge empfindet das menschliche Bewusstsein die üblichen alltäglichen Tätigkeiten und Routinen in der Ukraine oder einfach die unbedingte Hingabe an den Beruf unter der ständigen (oder nicht so ständigen) Bedrohung durch den Tod als ein »Außerhalbsein«. Als unfassbar. Als unmöglich. Suppen von der »Suppen-Tante« für Kinder im Bunker unter dem Asowstal-Werk. Selbstgestrickte Pullover von Frauen in den besetzten Dörfern. Bücher, die unter Beschuss vorbereitet und gedruckt wurden. Interviews in Luftschutzkellern. Lieder in der Kyjiwer Metro während eines massiven Raketenangriffs. Operationen am offenen Herzen, durchgeführt von Chirurgen in Kyjiw und Lwiw in Krankenhäusern ohne Strom. 27.000 hilflose ältere Menschen, die seit den ersten Kriegstagen durchgängig von freiwilligen Helfern aus Charkiw unterstützt werden.
Im Inneren bleibt der Krieg das objektive Ende des Wertvollsten – er ist die allumfassende Endgültigkeit in seiner auslöschenden Dauer, das andauernde Weltenende für den lebenden Mann, die lebende Frau und das lebende Kind, wenn früher oder später eine Kugel das Herz oder den Kopf trifft oder eine Rakete das Haus. Oder der Krieg als imaginärer Moment des Beginns eines neuen Lebens, ähnlich wie das »neue Leben« nach dem Zweiten Weltkrieg für die Überlebenden des Holocaust: Man kann irgendwie weiterleben, doch ohne Obdach, ohne Verwandte, mit einem Gefühl brennender Schuld gegenüber jenen Millionen, die es nirgendwo mehr gibt (und man selbst – existiert!), weiterzuleben, selbst wenn das Verlangen zu vergessen und gleichzeitig das Bedürfnis zu erinnern so brennen und sich gegenseitig ausschließen, dass man es nur dann schafft aufzuwachen, aufzutauchen, wenn man feinfühlig die innere Brandstätte und das »Außerhalbsein« (wo es einen Haufen Dinge gibt, ein vorübergehendes Dach über dem Kopf und zugleich alltägliche Obdachlosigkeit) auseinanderhalten kann. Im Inneren bleibt der Krieg der gnadenlose Kontext jeder einzelnen Minute jeder einzelnen symbolischen Geburt oder jedes einzelnen Todes: Der Krieg zieht den Schlussstrich unter allem, was uns widerfahren ist (nicht im Prinzip, sondern im ewigen Hier und Jetzt, mit Kerben im Hier und Jetzt von Mariupol, Butscha, Isjum), was mit dem Geist und im Kopf, mit dem Körper und in der Physis geschehen ist; oder, ganz im Gegenteil, der Krieg öffnet Abgründe und verbrennt die Brücken zu allem, was da künftig kommen könnte, zerstört dem »Neugeborenen«, auferstanden aus Feuer und Asche, die Zukunft (im Hier und Jetzt), trotz des Preises Hunderttausender kleiner durchlittener Apokalypsen.
Das »äußere« Leben in den endlosen Tagen des Krieges, in den eisigen, winterlichen Hunderten von Stunden nach den ersten vergewaltigenden Raketenangriffen auf Kyjiw, Charkiw, Tschernihiw und Odesa ist angespannt, vielfältig, leidvoll und dennoch voller Kampf- und Siegeswillen. Das äußere Leben der Ukrainer im schrecklichen Jahr 2022, mit seinen öffentlich-akademischen Streams und Zooms, Gedichten auf Facebook, Konzerten fast an vorderster Linie, den Reden an die Welt von Zhadan, mit der »Mutter der Apostel«, mit unserem Vater Schewtschenko und dem Vater Skoworoda, mit Schtschedryk, besser bekannt als Caroll of the Bells, in der Carnegie Hall in New York, mit Tausenden von Fahrzeugen, die von Millionen von Zivilisten für die ukrainischen Streitkräfte gekauft wurden, mit einer neuen politischen Sprache, die gerade jetzt, in den Tagen unsagbarer Herausforderungen entstanden ist, die aktiv, kooperativ und zutiefst menschlich ist, während drinnen, im Herzen und unter dem Herzen und noch tiefer im Innersten, Städte und Dörfer, Felder und Gärten, Häuser und Menschen begraben liegen, die innerhalb der schrecklichen und blutigen neun Monate des Krieges besetzt, zerstört und geschändet wurden. Das ist es, was jetzt für immer mit uns ist, in Vergangenheit, in Gegenwart und Zukunft, also gewiss immer, und immer als unser »Äußeres«, das dem »Inneren« entgegensteht, gegen die Verwüstung, den zerstörerischen Prozess. Auch der Fernunterricht während des Krieges ist »äußerlich«, und der »Präsenzunterricht«, der eines Tages wieder ganz normal nur Schule heißen wird, ist »äußerlich«, wenn die Menschen einfach irgendwie »leben« müssen. Und man muss leben, leben und nicht aufgeben, dem »Inneren« des Krieges nicht erliegen, denn im Krieg, wenn er sich verdichtet oder, im Gegenteil, im Inneren explodiert, fallen selbst die aktivsten Menschen, Menschen voller Tatendrang in der »äußeren« Welt der gewöhnlichen, guten Dinge, in eine auf den ersten Blick nicht erkennbare Erstarrung der Emotionen und innersten Gefühle. Irgendetwas hindert sie daran sich zu »äußern« – ihr Wesen, ihren Charakter, ihre Fähigkeit, schöpferisch zu wirken, ihre Komplexität. Sowohl der Held als auch der Trickster haben »im Krieg dann eben so wie im Krieg üblich« die Pflicht, einfach zu sein, so einfach wie möglich, ohne Komplexität. Denn wo es an Verständnis fehlt, dort kommt es zur Bedrohung. Deshalb werden die Bedürfnisse bescheidener. Und auch die Erfahrungen werden einfacher denn je. Monochrom. Schwarz und weiß.
Während des Maidan 2014 wurden die Unterschiede und die Vielfalt unserer Erfahrungen überdeutlich, stark wie ein Vulkanausbruch, das innere Erleben von Millionen von Ukrainern, die kaum schliefen, aßen oder Alltagsangelegenheiten nachgingen und dem Maidan ihre reale und virtuelle Präsenz gaben, ihre Gebete, die intensiven Erfahrungen der unmittelbaren Verteidiger des Maidan, nicht nur in Kyjiw, sondern auch in den meisten der anderen großen Städte der Ukraine, und das durch nichts getrübte Leben unserer anderen Landsleute, Hunderttausende oder sogar Millionen. Eine Hilfe waren die Geschichten, die von Anfang an über unseren Maidan erzählt wurden, Zehntausende, Hunderttausende von Geschichten. Heute können wir wieder, wie vor hundert Jahren in den Kämpfen um Unabhängigkeit nach dem Ersten Weltkrieg, Geschichten über unseren Kampf und unseren Sieg erzählen, wobei der Unterschied in den Erfahrungen, besonders den inneren und vertraulichen, noch eindrücklicher ist. Ich nehme ein leeres Notizbuch zur Hand oder öffne eine neue Datei oder wache einfach auf, um eine Geschichte zu erzählen – eine Geschichte als sei sie meine eigene, eine ganz neue. Nicht des Zeitvertreibs wegen. Nicht zum Vergnügen. Nicht zum Trost – aber damit die Imagination und die Erinnerung bei mir bleiben, wie der Geruch von Luft und Erde unter meinen Füßen.
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil
Marianna Kiyanovska ist 1973 in Schowkwa, Oblast Lwiw in der Ukraine geboren und studierte Philologie an der nationalen Iwan-Franko-Universität Lwiw. Sie ist seit über zehn Jahren Präsidentin der NGO Foundation of Sociocultural Development. Darüber hinaus ist sie Mitglied der Vereinigung ukrainischer Schriftsteller, des Nationalen Schriftstellerverbandes der Ukraine und des ukrainischen PEN-Clubs. Zuletzt erschienen die Gedichtbände »Babyn Jar. Stimmen« und »Hämatomahawafa: Lebendige Übergänge«, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Derzeit ist Frau Kiyanovska als Herausgeberin, Übersetzerin, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin tätig.
Von Dezember 2022 bis Mitte Juli 2023 lebte und arbeitete Marianna Kiyanovska am Wissenschaftskolleg, finanziell unterstützt durch die Stiftung Preußische Seehandlung. In dieser Zeit entstanden große Teile des Gedichtbandes »Fotosynteza«, der – ebenfalls dank der finanziellen Unterstützung durch die Stiftung – im Juli 2023 erschienen ist und der ihre jüngsten Gedichte zum Krieg auf Ukrainisch und in polnischer Übersetzung versammelt.