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» Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile «

Veröffentlicht am 21 Sept. 2023

Dieses Grußwort des Präsidenten der Freien Universität Berlin, Prof. Dr. Günter M. Ziegler, erschien im Magazin, das anlässlich des 40-jährigen Stiftungsjubiläums im September 2023 veröffentlicht wurde.

Prof. Dr. Günter M. Ziegler © David Ausserhofer

Wie funktioniert ein literarischer Text? Welche Bedeutung haben Anfang und Ende für sein Gelingen? Und worin besteht die gesellschaftliche Relevanz des Schreibens? Dass sich diese und andere Fragen an der Freien Universität Berlin nicht nur stellen, sondern auch zusammen mit zeitgenössischen Autorinnen und Autoren erörtern und diskutieren lassen, verdanken wir der Gastprofessur für deutschsprachige Poetik – ihr vollständiger Name lautet »Gastprofessur für deutschsprachige Poetik der Stiftung Preußische Seehandlung an der Freien Universität Berlin« –, die seit dem Jahr 2005 am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Freien Universität Berlin beheimatet ist.

Diese einzigartige Institution – bis zum Jahr 2016 trug sie den Namen des Dramatikers Heiner Müller – beruht auf einer intensiven Zusammenarbeit der Freien Universität Berlin mit der Stiftung Preußische Seehandlung, die uns sehr glücklich macht und die ein herausragendes Beispiel gelungener Kooperation darstellt. Denn durch sie entstehen Synergien, die das Ganze größer machen als die Summe der einzelnen Teile.

Die Professur steht in engem Zusammenhang mit dem Berliner Literaturpreis, der jährlich von dem Regierenden Bürgermeister oder der Regierenden Bürgermeisterin verliehen wird. Mit ihr gewürdigt werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die mit ihrem Gesamtwerk einen besonderen Beitrag zur kreativen Entwicklung der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geleistet haben. Zu den Ausgezeichneten gehören so berühmte und originelle Autorinnen und Autoren wie Herta Müller, Clemens Setz, Monika Rinck oder jüngst Lutz Seiler, der zu unserer großen Freude in diesem Jahr 2023 bei uns zu Gast sein wird.

Falls man nun fragt, was dieses Ganze eigentlich zu mehr als zur Summe seiner Teile macht, dann steht für mich fest: Es ist die vergrößerte Vielfalt im Zugang zu Literatur selbst. Im Zusammenspiel mit den anderen beiden künstlerischen Gastprofessuren des Peter Szondi-Instituts, der Samuel Fischer-Gastprofessur und der August-Wilhelm-Schlegel- Gastprofessur für Übersetzung, ermöglicht die Gastprofessur für deutschsprachige Poetik nämlich Zugangsweisen zu Literatur, die es an literaturwissenschaftlichen Instituten in dieser Form in der Regel nicht gibt. Indem sie den direkten Kontakt zur Gegenwartsliteratur herstellt, verbindet sie einerseits verschiedene Praktiken der Beschäftigung mit Literatur: sei es universitär, wissenschaftlich-methodisch, sei es ästhetisch, kreativ. Andererseits öffnet sie den Rahmen der Beschäftigung mit Literatur hin zu der literaturinteressierten Öffentlichkeit. Auf diese Weise kann die Universität sowohl nach außen als auch die Öffentlichkeit in die Universität hineinwirken. Dass es diesen Austausch zwischen aktuellem Schreiben und (literatur-)wissenschaftlicher Reflexion braucht, ist fester Bestandteil des Selbstverständnisses des Peter Szondi-Instituts. So bereichert die Gastprofessur für deutschsprachige Poetik das akademische Leben an der Freien Universität Berlin und erweitert unseren Horizont ungemein.

Die Preisträgerinnen und Preisträger leiten jeweils für ein Semester eine Schreibwerkstatt für literarischen Nachwuchs am Peter Szondi-Institut, in der literaturinteressierte Studierende aus Berlin und Brandenburg die Möglichkeit haben, in einen intensiven Austausch mit gegenwärtig tätigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu treten. Gerade dieses außergewöhnliche Format und die dadurch möglich werdenden ungewöhnlichen Begegnungen sind es, die von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an der Werkstatt – mitunter enthusiastisch – als bereichernd wahrgenommen werden.

Im Zentrum der gemeinsamen Arbeit stehen dabei nicht die Klassiker der Weltliteratur und auch nicht die oftmals vielfach ausgezeichneten Bücher der Gastprofessorinnen und Gastprofessoren, sondern eigene Texte der Studierenden. In einem o enen Format – meist richten sich die Themen der Werkstatt nach den Anliegen und Wünschen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer – stellen Studierende, oft zum ersten Mal, eigene Entwürfe zur Diskussion. Vielstimmige, einander ergänzende, aber mitunter auch gegensätzliche Schreibweisen tre en hier aufeinander: Eine Person schreibt sachlich-präzise Kurzprosa, eine andere verfasst experimentell-mehrsprachige Gedichte, eine dritte übt sich in szenischen Dialogen und eine vierte komponiert lange Erzähltexte. Die Studierenden lesen ihre Texte im Seminar vor und stellen sich der konstruktiven Kritik.

Bei dieser »Aufmerksamkeitsübung«, wie Rainald Goetz diese Literaturwerkstatt einmal genannt hat, geht es um die großen Fragen der literarischen Existenz, aber auch um handwerkliche Details einzelner Texte: Ist die Erzählkonstruktion stimmig? Passt dieses oder jenes Adjektiv? Wie könnte der Anfang spannender gestaltet werden? Zum Ende des Semesters präsentieren die Teilnehmenden an Literaturorten Berlins wie der Lettrétage oder dem Literaturhaus, aber auch einmal in einer Neuköllner Bar, ihre Ergebnisse. Diese Abschlusslesungen sind immer überraschend: Mal geht es wie bei Thomas Meineckes Seminar um »Rast«, mal stellen Studierende wie bei Feridun Zaimoglu kurze Skizzen im Umfang eines Bierdeckels vor.

Über die praktische Textarbeit hinaus zielt die Gastprofessur für deutschsprachige Poetik, wie es ihr Titel schon nahelegt, aber auch – und ganz besonders – auf eine Selbstreflexion des Schreibens. In der traditionellen Antrittsvorlesung, meist zu Semesterbeginn, denken die Gastprofessorinnen und Gastprofessoren über Grundlagen und Ziele des eigenen Schreibens nach. Diese öffentlichen Vorträge sind so vielfältig und anregend wie die Werke der Schriftstellerinnen und Schriftsteller selbst. Zum Gegenstand der poetologischen Reflexion kann vieles werden. So dachte Steffen Mensching über die Rolle des Berliner Dialekts für sein Werk nach, während Thomas Meinecke für eine Poetik des Nicht-Binären plädierte. Monika Rinck setzte sich dem Risiko des poetischen Aquaplanings aus, und Clemens Setz lobte Unarten und Abschweifungen der Literatur, nachdem zuvor Marion Poschmann die Qualle, Olga Martynova die Flaschenpost und Sibylle Lewitscharoff den Anfang bedacht hatten.

Über die praktische Arbeit in der Literaturwerkstatt und die theoretische Reflexion in der Antrittsvorlesung hinaus gehen die Gastprofessuren mit öffentlichen Lesungen, Gesprächen und anderen Formaten einher. In ihnen allen kommt die akademische Öffentlichkeit in Kontakt mit einem breiteren Publikum, um hochaktuelle Fragen der Literatur in den Blick zu nehmen.

Für die Möglichkeit zu solchen Begegnungen, aus denen mitunter langjährige Kooperationen und auch Freundschaften entstehen, danken wir als Freie Universität Berlin aufs Herzlichste unserer Partnerinstitution, der Stiftung Preußische Seehandlung. Wir blicken mit großer Freude auf unsere bisherige Zusammenarbeit, die sich bis in das Jahr 1988 zurückverfolgen lässt und die neben dieser Gastprofessur von Stiftungsprofessuren über die Unterstützung bei Publikations-, Kongressund Tagungsprogrammen bis hin zur Ermöglichung von Ankäufen von Archiven und Aktenmaterial für diverse Forschungsbereiche reichte.

Zum 40-jährigen Stiftungsjubiläum senden wir daher unsere herzlichsten Glückwünsche. Wir wünschen der Stiftung viele weitere erfolgreiche Jahre der Kultur- und Wissenschaftsförderung und freuen uns auf unsere weitere Zusammenarbeit. Themen für die Zukunft und für die zukünftigen Preisträgerinnen und Preisträger haben wir in großer Fülle.