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Literatur

Rückblick: Berliner Literaturpreis an Herta Müller

Veröffentlicht am 4 Mai 2005

Der von der Stiftung Preußische Seehandlung zur Würdigung besonderer Verdienste um die Entwicklung zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur ausgelobte „Berliner Literaturpreis“ wurde nach dem neuen Preiskonzept im Jahr 2005 zum ersten Mal vergeben. Die deutsch-rumänische Schriftstellerin Herta Müller hat die Auszeichnung der Stiftung Preußische Seehandlung mit dem „Berliner Literaturpreis“ 2005 und das Angebot der Berufung auf die „Heiner-Müller-Gastprofessur für deutschsprachige Poetik“ an der Freien Universität Berlin angenommen.

Der Preis wurde am 4. Mai 2005 vom Regierenden Bürgermeister von Berlin verliehen.

Berliner Literaturpreis 2005 © gezett

BEGRÜNDUNG DER JURY

Herta Müller hat über dreißig Jahre in einer Diktatur gelebt. 1987 durfte sie aus Rumänien ausreisen. Seitdem hat sie in einer Vielzahl von Veröffentlichungen vor allem erzählender Prosa die mikropolitischen Ausdrucksformen von Kontrolle, Macht und Gewalt reflektiert. Ihre Aufmerksamkeit für das Leben im postkommunistischen Europa ist durch die Erfahrung geprägt, dass es für das Funktionieren der Diktatur der Kontrolleure, Machthaber und Gewalttäter bedurfte. Bedroht das, was ihr in der Konfrontation mit dem Geheimdienst staatlich konzentriert und gebündelt entgegentrat, nicht auch die demokratischen Gesellschaften, wenn auch in vermeintlich zivilerer Gestalt? - Das literarische Werk dieser Autorin gewinnt seine Autorität durch die Sprachkraft, mit der sie der eigenen Traumatisierung zum Ausdruck verhilft und ihr entgegenarbeitet. Analog zur „postcolonial literature“ in der Nachgeschichte des europäischen Imperialismus scheint eine traurige Literatur des „Postsozialismus“ ihre eigenen Formen zu suchen. Herta Müller setzt aber nicht nur der Vergangenheit ein Denkmal, sondern zugleich ein Mahnmal für die Zukunft. Erinnerung ist eine der beständigsten Aufgaben von Literatur. Im Werk von Herta Müller ist sie zu einem bedrückenden Memento verdichtet. In einer inneren Wahlverwandtschaft mit Werken von Aleksandar Tišma über Imre Kertész und Günter Grass bis Ruth Klüger bewährt sich ihr Erzählen als Anteil an der literarischen Grundsteinlegung für ein neues Europa, das nicht ohne das Bewusstsein der Leiden an den Diktaturen und ihren Demütigungen entstehen kann. Sein eigenes Profil gewinnt dieses Werk durch die literarische Ausgestaltung der Erzähler-Figur. Man kann sie sich als Verkörperung des Pikaro vorstellen, abenteuerlustig und sarkastisch, ironisch und bösartig, beschreibend und analytisch, freundlich und sehr herb.

Jury: Prof. Dr. Gert Mattenklott, Dr. Ulrich Janetzki, Annette Reber