Beitrag
Wissenschaft

Abschlussbericht: Workshop am Wissenschaftskolleg zu Berlin zum Thema "Desiderate der Forschung zur Preußischen Seehandlung" am 28.11.2024

Veröffentlicht am 16 Apr. 2025

Vorstellung des Forschungsprojekts

Am 28.11.2024 hat am Wissenschaftskolleg zu Berlin ein Experten-Workshop zum Thema "Desiderate der Forschung zur Preußischen Seehandlung" stattgefunden. Der Workshop wurde im Rahmen eines Fellowships am Wissenschaftskolleg zu Berlin von PD Dr. Agnieszka Pufelska initiiert. Die Veranstaltung schloss an die im September 2023 im Rahmen des 40-jährigen Jubiläums der Stiftung durchgeführte Auftaktveranstaltung zu dem Forschungsprojekt „Desiderate der Stiftung Preußische Seehandlung“ in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften an, bei der bereits erste unerforschte Themenschwerpunkte zur historischen Seehandlung vorgestellt wurden. Der Workshop am Wissenschaftskolleg zu Berlin hatte zum Ziel, weitere übergeordnete Themen in Bezug auf Preußen anhand der Seehandlungsgeschichte zu diskutieren und weitere Themenschwerpunkte einzugrenzen. Ein besonderer Fokus bei dem von PD Dr. Agnieszka Pufelska kuratierten Workshop lag auf der transnationalen Perspektive und Betrachtung der Geschichte der Preußischen Seehandlung im Kontext der deutsch-polnischen Verflechtungsgeschichte.

Eröffnung und Grußworte
Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger

Der Workshop wurde von Prof. Dr. Barbara Stollberg-Rilinger, Rektorin des Wissenschaftskollegs zu Berlin, mit einleitenden Worten eröffnet. Sie referierte, dass sich die erinnerungspolitische Rolle Preußens in den letzten Jahrzehnten gewandelt hätte, so sei Preußen nach 1945 oft als "Bad Bank" der deutschen Geschichte betrachtet worden, während es heute in neuer Weise instrumentalisiert werde, so Stollberg-Rilinger. Dabei wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, die preußisch- polnisch-deutsche Geschichte nicht der neuen Rechten zu überlassen und eine differenzierte Betrachtung zu fördern. In ihren Ausführungen zur Preußischen Seehandlung betonte Prof. Stollberg-Rilinger, dass die Geschichte dieser Institution ein Schlüssel zur Preußenforschung insgesamt darstellen könnte. Sie verwies auf die koloniale Perspektive, die in der deutschen Ostpolitik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zum Ausdruck kam, und zitierte in diesem Zusammenhang Gustav von Schmoller, der 1873 Preußen als "eine Kolonie, die durch Ströme deutschen Blutes erobert worden ist" bezeichnet. Auch Max Schwarzenbach habe 1874 die Auffassung vertreten, dass die Hohenzollern zwar keine überseeischen Kolonien gegründet hätten, dafür aber "das eigene Staatsgebiet durch fremde Kolonisten gekräftigt und diesen Kolonien im Staate den Stempel des Germanentums aufzuprägen gewußt". Stollberg-Rilinger erklärte, dass in solchen Formulierungen Vorläufer späterer Entwicklungen bis hin zum "Generalplan Ost" zu betrachten seien und resümierte, dass von dieser kolonialen Perspektive bis zur nationalsozialistischen Ostpolitik nur ein kleiner Schritt gewesen sei.

Dr. Hans Gerhard Hannesen

Der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Preußische Seehandlung hob in seiner Begrüßung die Bedeutung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte der historischen Seehandlung für die Stiftung hervor. Seiner Darstellung nach könnten Namen und Stiftungskapital nicht losgelöst von der Vergangenheit gesehen werden, weshalb die Stiftung seit ihrer Gründung neben ihrem Auftrag der Kultur- und Wissenschaftsförderung auch Forschungsvorhaben zur preußisch- brandenburgischen Geschichte gefördert habe. In seinen Ausführungen betonte er, dass diese Tradition nach Maßgabe der finanziellen Möglichkeiten fortgesetzt und durch neue Herangehensweisen und Erkenntnisse vertieft werden solle.

Impulsreferat "Postpreußen" – Konzept und Archivbestände zur Preußischen Seehandlung in Polen
Referentin PD Dr. Agnieszka Pufelska

PD Dr. Agnieszka Pufelska stellte ihr Konzept vor, das sie in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Felix Ackermann am Wissenschaftskolleg entwickelt hätte und welches als "Postpreußen"-Konzept bezeichnet wird. Nach ihren Ausführungen soll dieses Konzept eine neue Sichtachse auf die preußische Geschichte freilegen und auf drei grundlegenden theoretischen Thesen basieren: "Preußen postkolonial", "Preußen transnational" und "Preußen postmortem".
Die erste These "Preußen postkolonial" betrachtet die preußische Expansion nach Osten im Kontext europäischer Imperialismus- und Kolonialgeschichte. In ihrem Vortrag legte Pufelska dar, dass der kolonialistische Blick auf Polen und Osteuropa bereits seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland verbreitet gewesen sei und sich im Kaiserreich zunehmend mit dem kolonialen Diskurs um Afrika gekreuzt habe. Ihrer Darstellung zufolge illustriere die Geschichte der Preußischen Seehandlung diese Verbindung zwischen innerer und äußerer Kolonisierung besonders anschaulich: So hänge die Gründung der Preußischen Seehandlung im Jahr 1772 direkt mit der Übernahme polnischer Territorien zusammen. Der aufgezwungene Handelsvertrag von 1775 habe den polnischen Außenhandel kontrolliert. Ferner habe die Seehandlung die Finanzen der Preußischen Ansiedlungskommission im 19. Jahrhundert verwaltet und die Germanisierungspolitik in den östlichen Provinzen gefördert.
Als zweiter Aspekt des Konzepts „Postpreußen“ wurde der Terminus "Preußen transnational" vorgestellt, der einen Blick auf Preußen als historisches Zuwanderungsland richtet und die Heterogenität des preußischen Staates betont. Pufelska kritisierte hierbei die in der Historiographie oft anzutreffende Reduktion Preußens auf ein deutsch-evangelisches Brandenburg-Berlin-Phänomen, wodurch die strukturellen Differenzen und regionalen Besonderheiten ausgeblendet würden. Ihren Ausführungen folgend habe die transregionale Tätigkeit der Preußischen Seehandlung stets eine Verflechtung von Religion, Ethnie und Nation vorausgesetzt, und ihre Geschichte lasse sich eben nicht in rein nationalen Kategorien fassen.
Die dritte These wird mit "Preußen postmortem" umschrieben und fordert einen Abschied von mythologisierten Preußenbildern, so Pufelska. So solle die Trauerarbeit nicht nur negative, sondern auch positive Seiten der preußischen Geschichte berücksichtigen. In ihrem Vortrag führt Pufelska aus, dass gerade die Geschichte der Seehandlung dafür zahlreiche Beispiele biete, da die Preußische Seehandlung zur wirtschaftlichen Erschließung verschiedener Regionen im heutigen Polen beigetragen und personelle Kontakte über geschäftliche Beziehungen hinaus gefördert habe.

Im zweiten Teil ihres Vortrags stellte Pufelska die polnischen Archivbestände zur Preußischen Seehandlung vor. So seien in insgesamt 13 polnischen Archiven Dokumente zur Preußischen Seehandlung vorhanden, wobei der größte Bestand im Staatsarchiv Stettin mit 205 Akten liege. Dem Bestand zufolge finden sich dort Dokumente vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert, aber auch einzelne Akten aus dem 18. Jahrhundert, darunter solche zum Warschauer Kontor der Seehandlung, Briefe des polnischen Königs sowie Korrespondenz mit dem jüdischen Bankier Jacob Fraenkel, der das Haus der Preußischen Seehandlung in Warschau übernommen hatte. Abschließend wird die zentrale polnische Archiv-Suchseite "Szukaj w Archiwach" (https://www.szukajwarchiwach.gov.pl) präsentiert und anhand der URL die Herausforderungen bei der Recherche für deutsche Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen dargestellt, da viele deutsche Dokumente unter polnischen Titeln geführt würden. Ein Aspekt, den man bei der Recherche in polnischen Archiven unbedingt berücksichtigen und wissen müsse.

Impulsreferat „Die Preußische Seehandlung und die Rzeczpospolita“
Referenten Dr. Markus Nesselrodt und Felix Töppel

Dr. Markus Nesselrodt und Felix Töppel präsentierten in ihrem gemeinsamen Vortrag eine wirtschaftsgeschichtliche Perspektive auf die Teilung Polen-Litauens im späten 18. Jahrhundert am Beispiel der Preußischen Seehandlung. Sie argumentierten, dass der preußische Kolonialismus als Bestandteil preußischer Merkantilpolitik verstanden werden müsse und eine Verbindung zwischen preußischem und überseeischem Kolonialismus in Form eines "partizipativen Kolonialismus" bestehe. Den Ausführungen der Referenten zufolge sei die Adelsrepublik Polen-Litauen im 18. Jahrhundert in die globale Wirtschaft bestens eingebunden gewesen und Preußen daran interessiert, dieses ökonomische Potenzial für die eigene Wirtschaft nutzbar zu machen. Sie verwiesen darauf, dass schon in Friedrichs II. politischem Testament von 1752 wirtschaftspolitische Überlegungen formuliert gewesen seien, die eindeutig auf eine Schwächung des östlichen Nachbarn zu eigenen Gunsten abzielten. Nach Darstellung der Vortragenden sei als wichtige Maßnahme im Kontext der preußischen Merkantilpolitik und Vorläufer der Seehandlung die Gründung der Königlichen Bank im Jahr 1765 zu nennen. Diese sollte nicht nur als Geldinstitut fungieren, sondern auch als Handelsakteur auftreten, wofür Kommanditen in Amsterdam und Hamburg eingerichtet wurden. Eine weitere Niederlassung in Cadiz, dem wichtigsten Hafen für den spanischen Kolonialhandel, sei geplant gewesen, aber nicht realisiert worden, so die Referenten. Diese handelsstrategische Verbindung zwischen Spanien, Preußen und Polen-Litauen habe jedoch später die Grundlage für die Preußische Seehandlung gebildet.
Nesselrodt und Töppel widersprachen der in der Forschung teilweise vertretenen These, dass die territoriale Ausdehnung nach Osten aufgrund fehlender Konkurrenzfähigkeit auf den kolonialen Märkten erfolgt sei. Vielmehr zeigten die Gründung von Bank und Seehandlung eine eindeutige Ausrichtung auf transatlantische Märkte, insbesondere nach Lateinamerika. Diese Nutzung der Handelsstrukturen westlicher Seemächte bezeichneten sie als "partizipativen Kolonialismus".
Ferner führten die Referenten aus, dass die erste Teilung Polens 1772 eine Neuordnung des Salzhandels in den verbleibenden polnischen Gebieten möglich machte, da die Salzwerke von Wieliczka und Bochnia an Österreich gefallen waren. Diese Absatzgebiete wurden für Preußen zu einem lukrativen Markt für Salz, das vor allem nach Spanien gehandelt wurde. Der preußisch-polnische Handelsvertrag von 1775 schuf die rechtliche Grundlage für eine gegen Polen-Litauen gerichtete Wirtschaftspolitik, die darauf abzielte, die Adelsrepublik von Preußen abhängig zu machen und Preußen die Entwicklung eigener Industrien durch billige Rohstoffe aus Polen zu ermöglichen.
Am Beispiel des Warschauer Kontors der Seehandlung verdeutlichten die Referenten die strukturellen Voraussetzungen für die wirtschaftliche Ausbeutung Polen- Litauens. Nach ihren Ausführungen sei das Warschauer Kontor, vermutlich 1777 eröffnet, die größte ausländische Niederlassung der Seehandlung gewesen und habe als wichtige Verteilerstation für die Erlöse aus dem Handel fungiert. Seine Hauptaufgaben hätten in der Kontrolle der Salzmagazine auf polnischem Territorium und der Verteilung der Gewinne aus dem Salzhandel an die anderen Niederlassungen in den preußischen Ostseehäfen bestanden. Daneben sei das Kontor als Verkaufsstelle für preußische Waren und als Kreditgeber für polnische Adlige aufgetreten. Die Aktivitäten des Warschauer Kontors seien äußerst vielfältig und umfangreich gewesen. Einer von den Referenten zitierten Aufstellung von 1781 zufolge beliefen sich die Gesamteinkünfte durch den Handel mit Pfand- und Wechselbriefen, Salz, Pottasche, schlesischer Leinwand und Porzellan auf fast 600.000 Reichstaler – die höchsten Einnahmen aller preußischen Kontore östlich von Berlin. Nach der endgültigen Teilung Polens 1795 habe sich die wirtschaftspolitische Konstellation des Warschauer Kontors fundamental verändert, da Warschau nun als Hauptstadt der Provinz Südpreußen kein Ausland mehr gewesen sei.

Impulsreferat: „Die Deutsche Reichsbank als Akteur im nationalsozialistischen Eroberungskrieg“
Referent: Dr. Ingo Loose

Dr. Ingo Loose präsentierte in seinem Vortrag eine Länderstudie zum besetzten Polen im Zweiten Weltkrieg 1939-1945, in der er die Deutsche Reichsbank als Akteur im nationalsozialistischen Eroberungskrieg untersuchte. Er stellte sein Referat in den Kontext eines von der Bundesbank 2018 angestoßenen Forschungsprojekts, in dessen Rahmen insgesamt acht Monografien entstanden sind, darunter seine Untersuchung zur Tätigkeit der Reichsbank in Polen während des Zweiten Weltkrieges. Den Ausführungen von Dr. Loose folgend seien nach dem deutschen Angriff auf Polen im September 1939 binnen weniger Tage 15 sogenannte Reichskreditkassen errichtet und als vorläufige Besatzungswährung die bereits zu diesem Zweck vorbereiteten Reichskreditkassenscheine eingeführt worden. Die Währungspolitik im besetzten Polen habe sich Ende 1939 in zwei Bereiche geteilt: In den annektierten westpolnischen Gebieten sei das Gesetz über die Deutsche Reichsbank eingeführt worden, während im Generalgouvernement im Frühjahr 1940 an Stelle der polnischen Notenbank die "Emissionsbank in Polen" geschaffen worden sei. Diese habe in personeller und faktischer Abhängigkeit von der Reichsbank gestanden und könne als integraler Bestandteil der letzteren betrachtet werden.
Die Wirtschaftspolitik im Generalgouvernement sei von Beginn an auf maximale Ausbeutung ausgerichtet gewesen. Wie der Referent darlegte, habe Generalgouverneur Hans Frank das erklärte Ziel verfolgt, aus dem Generalgouvernement zugunsten des Reiches und seiner Kriegführung so viel wie möglich herauszuholen. Die Emissionsbank habe zwei Kernaufgaben gehabt: zum einen den Aufbau einer Geldwirtschaft im Generalgouvernement zwischen scheinbarer Eigenständigkeit nach außen und tatsächlicher Dienstbarkeit für deutsche Interessen, und zum anderen die Finanzierung der Besatzungskosten und der Wehrmacht. Dr. Loose betonte, dass die Judenverfolgung fast das gesamte Tätigkeitsfeld der Reichsbank im Generalgouvernement berührt habe. Seinen Ausführungen nach hätte die Bank blockierte Konten jüdischer Eigentümer oder Judenräte verwaltet, Wertgegenstände konfisziert und Firmenguthaben übernommen. Die Niederlassungen der Emissionsbank seien durch das ausführliche Berichtswesen bestens über die Lage der Juden informiert gewesen, von ihrer Ghettoisierung über Zwangsarbeit bis zur Deportation. Besonders hervorzuheben sei, dass Dr. Loose darauf hinwies, dass die Chiffre "Aussiedlung" für die Ermordung der Juden im Generalgouvernement gestanden habe.
Insgesamt habe die fast sechsjährige deutsche Besatzungszeit fünf Millionen Ermordete, ein zerstörtes Land und eine vollkommen ruinierte polnische Volkswirtschaft hinterlassen, resümierte Loose. Für das Reichsbankpersonal habe dies nach 1945 kaum Konsequenzen gehabt. Wie der Vortragende ausführte, sei lediglich Reichsbankpräsident Walther Funk 1946 im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zu 20 Jahren Haft verurteilt worden, und Vizepräsident Emil Puhl habe 1948 in einem der Nürnberger Nachfolgeprozesse eine Haftstrafe erhalten. Fritz Paersch, der Bankdirigent der Emissionsbank, sei trotz seiner Aufnahme auf die internationale Kriegsverbrecherliste nie angeklagt worden und sei später sogar Vizepräsident der Landeszentralbank in Hessen sowie Abwickler der Bundesbank für die Reichsbank geworden.

Die besondere Rolle der Preußischen Staatsbank (Seehandlung), die nach 1933 nicht in die Reichsbank integriert wurde, bedarf einer gesonderten Abhandlung.

Impulsreferat: Kolonialistische (Selbst-)Deutungen hansestädtischer Kaufleute im besetzten Polen 1939 bis 1945
Referent: Dr. Felix Mattheis

Dr. Felix Mattheis präsentierte in seinem Vortrag "'Die Kolonien liegen im Osten' – Kolonialistische (Selbst-)Deutungen hansestädtischer Kaufleute im besetzten Polen 1939 bis 1945" Teilergebnisse seiner Dissertation. Gegenstand seiner Untersuchung war dabei eine bestimmte Gruppe von Handelsunternehmen bzw. deren Eigentümer und Vorsitzende, die im Generalgouvernement als sogenannte Kreis- Großhandelsfirmen tätig waren. Diese Firmen stammten zum größeren Teil aus Hamburg und Bremen und seien bis 1939 in transozeanischen Ländern und kolonialen Gebieten tätig gewesen.
Den Ausführungen von Mattheis zufolge hätten diese Unternehmen nach dem deutschen Angriff auf Polen im September 1939 und der darauffolgenden britischen Seeblockade gegen Deutschland ihre überseeischen Betätigungsfelder verloren. Durch die Vermittlung hanseatischer Lobbyisten sei es den Unternehmen gelungen, in enger Kooperation mit der Regierung des Generalgouvernements in Krakau neue Tätigkeitsfelder in den besetzten polnischen Gebieten zu finden.
Die Kreis-Großhandelsfirmen hätten im Generalgouvernement eine Doppelrolle erfüllt, wie der Referent darlegte: Zum einen hätten sie die wirtschaftliche Existenzvernichtung der jüdischen Bevölkerung unterstützt, indem sie die Funktion der verdrängten jüdischen Gewerbetreibenden übernommen hätten. Zum anderen hätten sie den Besatzern bei der Ausbeutung der polnischen Landwirtschaft geholfen, was ein zentrales Ziel der Besatzungspolitik entsprach. Die Landwirte seien gezwungen worden, ihre Produkte zu niedrigen behördlich festgelegten Preisen an den deutschen Wirtschaftsapparat zu verkaufen. Um den lukrativeren Schwarzmarkt zu bekämpfen, hätten die Besatzer ein System von "Prämienwaren" geschaffen: Bauern, die ihre Produkte ablieferten, hätten Bezugsscheine für Waren erhalten, die die Kreis-Großhandelsfirmen in den Handel einspeisten.
Die Quellenanalyse des Vortragenden zeigte, dass diejenigen Kaufleute, die bis 1939 in kolonialen Gebieten tätig gewesen waren, ihre Erfahrungen und Selbst- und Fremdzuschreibungen auf den polnischen Kontext übertragen hätten. In ihren Selbstdarstellungen hätten sie ihre zivilisatorischen Leistungen gegenüber der als primitiv und schmutzig beschriebenen polnischen Umgebung betont – ein klassischer Topos des kolonialistischen Diskurses. Die Kaufleute hätten sich als Kolonisatoren gesehen, die "wilden Boden" in Besitz nahmen und "deutsche Aufbauarbeit" leisteten.
Im Umgang mit der einheimischen Bevölkerung hätten die Kaufleute eine Herrenmenschenattitüde eingenommen und die Polen explizit mit Afrikanern verglichen, so Mattheis. Er belegte anhand von Quellenmaterial, dass es in einem Geschäftsbericht der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft aus Ostgalizien hieße: "Zweifelsohne hat sich die Kenntnis und Erfahrung unserer eingesetzten afrikanischen Herren in der Behandlung fremder Volksstämme sehr günstig ausgewirkt." Und Ernst Durlach, Geschäftsführer einer in Belgisch-Kongo tätigen Bremer Firma, habe geschrieben: "Einen Begriff vom Wert der Zeit hat der polnische Bauer und Kleinhändler, auch der Arbeiter nicht. Und die ganze Primitivität des Handels, der Umgebung und der Menschen erinnert uns manchmal stark an Afrika." Dieser Transfer kolonialistischer Interpretationsschemata habe nicht nur der Legitimation der eigenen Herrschaft gedient, sondern auch der Rationalisierung der völlig neuartigen und krisenhaften Situation der Unternehmen nach Kriegsbeginn. Da die Afrika-Pläne der NS-Führung zunehmend unrealistisch erschienen, hätten die besetzten polnischen Gebiete als Ersatz interpretiert werden können. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion habe die Deutsch-Ostafrikanische Gesellschaft im Oktober 1941 geschrieben: "Wir freuen uns, endlich wieder etwas Positives zu tun zu haben und beim Aufbau im Osten mithelfen zu können. Momentan gilt im Allgemeinen die Parole: Die Kolonien liegen im Osten."

Diskussion und Ausblick
Moderation Prof. Dr. Iwan-Michelangelo D‘Aprile

In der abschließenden Diskussion wurden fünf zentrale Themenfelder für die weitere Forschung zur Preußischen Seehandlung hervorgehoben:

1. Die Notwendigkeit, preußische Geschichte als deutsch-polnisch-jüdisch- litauische Verflechtungsgeschichte zu rekonstruieren. In der Diskussion wurde hierbei auf die bisher fehlende Berücksichtigung litauischer Perspektiven hingewiesen.

2. Die Untersuchung der transnationalen Verflechtungen der Preußischen Seehandlung, insbesondere die Verbindungen zwischen Wirtschaftspolitik, Bankenpolitik und Kolonialismus vom 18. bis ins 20. Jahrhundert.

3. Die historische Entwicklung der Preußischen Seehandlung vom Handelsunternehmen zur Staatsbank und die damit verbundenen Transformationsprozesse.

4. Die Zusammenführung und Erschließung der in verschiedenen Archiven verstreuten Aktenbestände zur Preußischen Seehandlung, wobei insbesondere die digitale Vernetzung deutscher und polnischer Archive von den Teilnehmenden als wichtiges Desiderat hervorgehoben wurde.

5. Die Analyse der Preußischen Seehandlung im Kontext ihrer sozialen Funktion und ihrer Rolle bei der Finanzierung verschiedener sozialer Institutionen.

Als Ergebnis des Workshops wurde vereinbart, diese Aspekte im Rahmen einer für 2025 geplanten Fachtagung in Kooperation mit der Historischen Kommission zu Berlin weiter zu vertiefen. Der Workshop hat damit wichtige Impulse für die weitere Erforschung der Preußischen Seehandlung gesetzt und neue Perspektiven für eine transnationale und postkoloniale Preußenforschung eröffnet.

KURZBIOGRAFIEN

PD Dr. Agnieszka Pufelska ist Kulturhistorikerin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nordost-Institut der Universität Hamburg mit Sitz in Lüneburg tätig. Nach ihrer Promotion 2007 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder): „Die ‚Judäo-Kommune‘ ein Feindbild in Polen. Das polnische Selbstverständnis im Schatten des Antisemitismus 1939–1948“ wurde sie mit einer Arbeit zu den preußisch-polnischen Kulturbeziehungen im 18. Jahrhundert an der Universität Potsdam 2017 habilitiert: „Der bessere Nachbar? Das polnische Preußenbild zwischen Politik und Kulturtransfer 1764–1794“. In einem 2021 von ihr herausgegebenen Themenheft von „Geschichte und Gesellschaft“ entwickelt sie ein innovatives Konzept einer post-kolonialen Geschichtsschreibung Preußens als europäische Beziehungsgeschichte. Sie erschloss anlässlich des Kant-Jahres die Königsberger Bestände der Albertus-Universität, die im Staatsarchiv Olsztyn aufbewahrt werden.

Felix Töppel ist Kulturwissenschaftler und Historiker. Nach seinem Studium der Kulturwissenschaften sowie der Europäischen Kulturgeschichte in Frankfurt (Oder) und Nizza promoviert er gegenwärtig an der Europa-Universität Viadrina mit einer Arbeit zur Preußischen Seehandlung und den Konsulaten. Felix Töppel ist seit 2020 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Viadrina und zudem als freier Mitarbeiter für die Medienagentur Geschichte Hamburg (Dr. Tillmann Bendikowski) tätig. Töppel ist Mitherausgeber zweier Sammelbände: „Geschichte(n) von Stadt und Universität: Frankfurt an der Oder und die Viadrina“ (mit Klaus Weber) sowie „Berlins Weg in die Moderne: Koloniale Warenströme und Sehnsüchte, 1713–1918“ (mit Samuel Eleazar Wendt, Klaus Weber und Lila-Ruben Vowe). Gefördert wurde das aktuelle Forschungsprojekt u. a. mit dem Preußen-Stipendium 2024 der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sowie mit einem Forschungsstipendium des Rothschild Archives London.

Dr. Ingo Loose ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München–Berlin, Abteilung Berlin. Er studierte Geschichte und Slawistik in Hamburg, Berlin, Warschau und Moskau. 2005 promovierte er mit einer Arbeit über Kreditinstitute im besetzten Polen 1939–1945. Mitherausgeber der 16-bändigen Edition „The Persecution and Murder of the European Jews by Nazi Germany, 1933–1945“. Er war zwischen 2018 und 2022 Mitarbeiter im Forschungsprojekt „Von der Reichsbank zur Bundesbank“. Seine Forschungsschwerpunkte liegen auf der Geschichte Ost- und Ostmitteleuropas, des Holocaust, der osteuropäischen Wirtschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert und der jüdischen Geschichte.

Dr. Felix Matheis hat an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und der Nikolaus-Kopernikus-Universität Torún Mittlere und Neuere Geschichte, Soziologie und Vor- und Frühgeschichte studiert. Anschließend promovierte er an der Universität Hamburg bei Prof. Dr. Birthe Kundrus und Prof. Dr. Frank Bajohr, mit Forschungsaufenthalten am Zentrum für Holocaust-Studien des Instituts für Zeitgeschichte München und am Deutschen Historischen Institut Warschau. Für das Promotionsprojekt recherchierte er in zahlreichen Archiven bei Polen und Deutschland. Seine Dissertation erschien 2024 bei Wallstein unter dem Titel „‚Hanseaten im Osteinsatz‘ – Hamburger und Bremer Handelsfirmen im Generalgouvernement 1939-1945”. Im Anschluss war er für den Hamburger Antisemitismusbeauftragten tätig und arbeitet derzeit als Fachreferent für den Hamburger Senat im Bereich Bekämpfung und Prävention von Antiziganismus.

Dr. Markus Nesselrodt ist Kulturwissenschaftler und Osteuropahistoriker. Auf das Studium in Frankfurt (Oder), Breslau und Warschau folgte 2017 die Promotion an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über die Erfahrungen polnischer Juden in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkrieges. Die Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet. Seit 2017 ist Nesselrodt wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), wo er an einer Habilitationsschrift über Warschaus multiethnische Bevölkerung um 1800 arbeitet. Markus Nesselrodt hat in deutscher, englischer und polnischer Sprache publiziert. Demnächst erscheinen der Aufsatz „Encounters Between Jews and Non-Jews in Prussian Warsaw, 1796-1806” in der Zeitschrift „Polin. Studies in Polish Jewry” (Januar 2025) sowie der Aufsatz „Zwischen Diskurs und Praxis: Preußische Herrschaft im geteilten Polen-Litauen zwischen 1772 und 1806 als koloniales Projekt” in „Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte” (Frühjahr 2025).